...der Professor!!!
Die Öffnungszeiten des Sekretariats meines Professors für Literaturdidaktik lassen wenig Handlungsspielraum: Montags und mittwochs von 10.30 – 11.00 Uhr. Ich starte einen Versuch, meinem sich windenden und Zeter und Mordio brüllenden Sohn eine Mütze überzustreifen. Gleichzeitig schlüpfe ich in meine Schuhe, angele nach Babytragetuch und Haustürschlüssel und stolpere über meinen Mann, der schlaftrunken nach seinen Pantoffeln sucht. Ich werfe die Tür hinter mir in Schloss. In der U-bahn, eingequetscht zwischen einem Mann, der zu denken scheint, das Deodorant etwas zum essen ist und einer Frau, die wohl gestern ihre Karotten einmal zu oft in den Allioli-Topf getaucht haben muss, wird mir auf einmal klar, dass ich die folgenden Dinge vergessen hatte: Mir die Haare zu kämmen, mir die Zähne zu putzen, mir das Gesicht zu waschen, Kaffee zu trinken, mein Handy mitzunehmen, einen Schal umzutun und duschen. In Gedanken leiste ich Abbitte an die Knoblauchfrau und den Schwitzmann und bedaure alle anderen Fahrgäste. Ich ernte seltsame Blicke. Gottseidank bin ich das gewöhnt. Als Tragetuch-Mama landet man ziemlich schnell in der Öko-Schublade. Dabei sollten eigentlich alle Menschen einmal folgende Erfahrung gemacht haben: An einem Mittwoch Morgen im Semester um Viertel vor 10 mit einem Kinderwagen im Schlepptau den Versuch zu starten mit der U35 von Bochum Hauptbahnhof zur Ruhr-Uni zu kommen. Mein Sohn findet, dass 10 Uhr Essenszeit ist. Und er meint damit weder Viertel vor, noch drei Minuten nach 10, sondern heute, jetzt und hier meint er 10 Uhr. Punkt 10. Und wenn mein Sohn findet, dass 10 Uhr Essenszeit ist, dann ist das so. Schlussaus. Ich rufe mir ins Gedächtnis zurück, dass er ja nichts dafür kann, und dass ich ja nach Bedarf stille, damit er eine vertrauensvolle Beziehung zu mir und seiner Umwelt entwickeln kann, weil auf seine Bedürfnisse eingegangen wird und er sich selbst als handelndes Subjekt erleben darf. So wird er eines Tages eine selbstbewusste Persönlichkeit entwickeln, und dank eines intakten, nicht durch rigide Stillzeiten systematisch zerstörten Hunger- und Sättigungsgefühls, kein Opfer von Übergewicht oder Essstörung werden. Morgens um 10 Uhr am Bahnsteig der Ruhr-Uni Bochum verfluche ich mich für jedes Buch, das ich je über das Stillen gelesen habe. Da sitze ich also mit entblößter Brust und einem zufrieden glucksenden und schmatzenden Baby auf dem Schoß auf der Bank des Bahnsteiges. Und so ziemlich jeder Student, der Mittwoch morgens um 10 Uhr c.t. Vorlesung hat, weiß jetzt, was Körbchengröße H wirklich bedeutet.